SWR, WDR, arte | 90 min, 2007
Mitten in Bielefeld wird ein junger Kurde auf offener Strasse erschossen. Er wird mit 22 Schüssen regelrecht hingerichtet. Sein Mörder Zalim M. sitzt lebenslang im Gefängnis. Die Schlagzeilen ähneln denen anderer Ehrenmorde. Zwei Familien streiten sich, bis ihr unversöhnlicher Hass aufeinander mit einer Bluttat endet. Der Täter wird gefaßt und landet im Gefängnis. Für die Öffentlichkeit ist der Fall damit abgeschlossen. Für die Mitglieder der verfeindeten Sippen fängt er erst an. „Im Schatten der Blutrache“ erzählt die Geschichte der Familie des Täters. Drei Jahre lang begleiten wir den Verurteilten Zalim, seinen Bruder Adil, seine Schwester Gülnaz und deren Tochter Evelyn – vier Menschen, von denen jeder auf seine Weise in den Fall verstrickt ist. Vier Schicksale, in denen sich die Tragik der Blutrache spiegelt. Die Ereignisse der Vergangenheit und der Gegenwart fügen sich wie Mosaiksteine zum spannenden und intimen Porträt einer Einwandererfamilie. Während die einen wie Europäer leben wollen, halten die anderen an den jahrhundertealten Ritualen der Urgroßväter fest. Doch im archaischen Gefüge der Großfamilie entscheidet niemand für sich allein. Wie Dominosteine stürzen alle Personen, nachdem der erste sich bewegt. Und der Mut, seinen eigenen Weg zu gehen, kann tödlich sein. „Im Schatten der Blutrache“ erzählt eine Geschichte von Ehre, Hass, Liebe und einer großen Angst: Wer stirbt als Nächster?
Festivals
Deutscher Fernsehpreis
Gerd Ruge-Stipendium
Mujeres en Dirección, Cuenca
Stab
Buch und Regie: Jana Matthes & Andrea Schramm
Idee: Katrin Rohnstock
Kamera: Patrick Popow, Fariba Nilchian, Bernd Meiners
Schnitt: Frank Brummundt
Dramaturgische Beratung: Tamara Trampe
Ton: Ferry Siering, René Beißert
Musik: Boris Bergmann, Johannes Drescher
Sprecher: Katharina Giesbertz, Ronald Spiess, Calina Tietze
Produzent: Stefan Reiß
Redaktion: Gudrun Hanke-El Ghomri (SWR), Enno Hungerland (WDR)
Eine Produktion von Stefan-Reiss-Film
Rezensionen
DER SPIEGEL
FAZ
TAZ
Berliner Zeitung
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…wie ein trauriger Krimi ohne Auflösung
„Du bist kein Mann mehr, du bist ein Europäer – wie eine Frau bist du!“, muss sich der Bielefelder Kurde Adil von seinem Schwager sagen lassen, weil er seiner Frau in der Küche hilft. Das war, bevor seine Schwester Gülnaz die Scheidung einreichte und damit eine blutige Familienfehde auslöste. Zwei Jahre lang begleiteten Jana Matthes und Andrea Schramm die verängstigte Einwandererfamilie: Adil, der als Familienältester täglich um sein Leben fürchtet, den kleinen Bruder, der bereits wegen Mordes im Gefängnis sitzt, und Gülnaz‘ Tochter, die trotz der Heirat mit einem Kurden von öffentlichen Auftritten als Sängerin träumt. Die bewegende Dokumentation wirkt wie ein trauriger Krimi ohne Auflösung. Noch beeindruckender aber erzählt sie von Menschen, die an der Kluft zwischen europäischer Emanzipation und kurdischer Tradition zerbrechen.“
DER SPIEGEL vom 16.7.2007
„Vier Menschen begleitet diese so lebensnahe wie beängstigende Dokumentation: Da ist Zalim, der wegen Mordes einsitzt. Zalims Schwester Gülnaz hat sich von ihrem Ehemann getrennt und dadurch eine Gewaltspirale in Gang gesetzt. Bruder Adil hält zu ihr und schwebt in Lebensgefahr. Tochter Evelyn plant gegen den Wunsch und Rat der Mutter ihre eigene Hochzeit.“
Süddeutsche Zeitung vom 17.7.2007
Eine Katze mit vielen Köpfen
„Wenn Adil versucht, in Worte zu fassen, wie er seit dem Beginn der Blutrache versucht, dem Tode zu entkommen, erzählt er die alte kurdische Geschichte von der Katze und der Maus: „Komm aus deinem Versteck heraus und laufe zu einem anderen Loch. Du bekommst dafür ein Goldstück von mir. Doch die Maus kennt die Katze: Sobald sie ihr Loch verlässt, wird sie gefressen.“ Die Katze, sagt Adil M., hat viele Köpfe: manchmal mache sie sich unsichtbar, doch weit weg sei sie nie – wenn der Kurde von der Katze spricht, meint er die Familie seines ehemaligen Schwagers.
Seit mehr als dreißig Jahren lebt die Familie von Adil M. in Bielefeld, seitdem seine Schwester Gülnaz sich nach zweiundzwanzig Jahren von ihrem prügelnden Ehemann scheiden ließ und Adil M. sie dabei unterstützte, fürchtet er um sein Leben. Einmal schon wurde auf ihn geschossen; nur die kugelsichere Weste, zu der ihn seine besorgte Frau zuvor überredet hatte, rettete ihn vor dem sicheren Tod.
… Den beiden Filmemacherinnen ist mehr als nur ein beklemmendes Porträt einer bedrohten Familie gelungen. Der Film forciert, ja fordert geradezu einen Perspektivenwechsel in der Debatte um Integration und Parallelgesellschaft heraus: Die Vorstellung, dass der Graben immer zwischen Deutschen auf der einen und Migranten auf der anderen Seite verläuft, fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Denn hier existiert keine Einstellung gegenüber dem Gastland, in der sich alle Mitglieder des Familienclans wiederfinden. Der fundamentale Riss zwischen kurdischer Tradition und westlichen Wertevorstellungen geht vielmehr durch die Familien selber; eindrucksvoll zeichnen Matthes und Schramm die unterschiedlichen Lebensentwürfe der Familienmitgleider nach. Eine Stärke des Films ist, dass sie dabei meistens auf eigene Kommentare verzichten. …“
Kilian Trotier | Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.7.2007
Teufelskreis der Ehre
„Mit „Im Schatten der Blutrache“ zeigt die ARD ein beklemmend intimes Porträt einer kurdischen Familie.
… Den beiden Filmemacherinnen Jana Matthes und Andrea Schramm ist ein beklemmend intimes Porträt einer Familie gelungen, die in einem Teufelskreis fataler Vorstellungen von Stolz, Ehre und Männlichkeit gefangen ist.
… Zwar kommt nur eine Seite des Konflikts zur Sprache, weil die Familie des Exmanns jede Zusammenarbeit verweigert hat. Dennoch zeigt der Film, wie das patriarchale System der Ehre nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer gefangen hält. …“
Daniel Bax | die tageszeitung vom 17.7.2007
Tödliches Ehrgefühl
„… „Im Schatten der Blutrache“ haben Jana Matthes und Andrea Schramm ihre Dokumentation genannt, die bedrückende Einblicke in Lebensrealitäten mitten in Deutschland gibt. Über zwei Jahre haben die Autorinnen die Familie von Gülnaz in langen Einstellungen mit der Kamera begleitet und die Blutfehde unter zwei kurdischen Familien protokolliert.
Entstanden ist das Porträt einer Welt, die archaische Werte reproduziert und Abweichungen gnadenlos bestraft. Schade für den Film und den Zuschauer ist es, dass die Familie des Exgatten von Gülnaz zu keinem Interview bereit war. …“
Berliner Zeitung vom 17.7.2007